Kybernetik - was ist das?Kybernetik

Eine verständliche Einführung

Von der Selbstregulierung und einem Fußballspiel am Sonnabend

Die Definitionen, die wir bis jetzt entgegennehmen konnten, sind alle recht technisch - finden Sie nicht auch? Vermutlich ist das auf die starke Persönlichkeit Wieners zurückzuführen, der selbst Techniker war. Leider kommen dabei viele andere Aspekte, die man der Kybernetik heute ohne weiteres zutraut, zu kurz. Selbst Biologen oder Soziologen haben sich vielfach angewöhnt, sich des technischen Vokabulars zu bedienen, wenn sie von Kybernetik in ihrem ureigenen Fachgebiet sprechen (Soziologieprofessor Arnold Gehlen: "Kybernetik ist die Theorie der Regelungstechnik"); im schon erwähnten Fischer-Lexikon liest man denn auch die wohlbeachtete Feststellung, dass die Terminologie der Kybernetik weitgehend die der technischen Regelungslehre sei.
Aber die Technik ist ja nur eine Seite der Kybernetik, eine ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Kluge Köpfe sind viel weiter; sie fassen die Kybernetik heute viel eher mathematisch als technisch auf. Man könnte - ein wenig leger formuliert - sagen, dass die Kybernetik einen konsequenten Versuch darstellt, auch solche Wissenschaften mathematisch darzustellen, die traditionellerweise von Menschen betrieben werden, von denen man weiß, dass sie in Mathematik "mangelhaft" hatten.
Es ist schade, dass wir Ihnen hier just von dieser Richtung der Kybernetik nicht mehr erzählen können - aber leider ist gerade Mathematik eine Wissenschaft, die sich nicht gerne popularisieren läßt; es kommt - wie bei der Musik - nichts dabei heraus, wenn man sie in so handliche Stückchen zerlegt, dass auch ein Leser ohne Vorbildung sie verdauen kann.

Kybernetik

So müssen Sie es uns eben glauben, dass es für sehr viele kybernetische Modelle eine mathematische - also ganz abstrakte - Darstellungsmöglichkeit gibt. Dass der Rückkopplungsvorgang durch Differentialgleichungen beschrieben werden kann, sagten wir ja schon. Man hat aber auch beim Versuch, Volks- und Betriebswirtschaften in kybernetischen Modellen darzustellen und diese zu mathematisieren, bereits erstaunliche Ergebnisse erzielt.
Doch auch die Mathematisierung umfaßt nicht die ganze Bedeutung der Kybernetik, auch sie ist nur eine Seite dieser Wissenschaft.
Aus der DDR kommt eine Definition, die schon ein größeres Gebiet umreißt. Sie stammt von Georg Klaus, einem der besten Köpfe auf dem Gebiet der Kybernetik. Und seiner Ansicht nach ist Kybernetik "die Theorie des Zusammenhangs möglicher dynamischer selbstregulierender Systeme mit ihren Teilsystemen".
Diese Begriffsbestimmung ist sehr interessant. Unglücklicherweise enthält sie eine Einschränkung, die nicht ganz angebracht scheint: Sie verlangt von einem kybernetischen System, es müsse "selbstregulierend" sein. Das dünkt uns ungerecht gegenüber all den Systemen, die von außen oder überhaupt nicht reguliert werden. Der menschliche Hormonhaushalt zum Beispiel bleibt doch ganz gewiß auch dann noch ein kybernetisches System, wenn er nur durch ärztliche Spritzen aufrechterhalten wird, also von der Selbstregulierung langst abgekommen ist. Oder?
Und die physikalische Formel von der Gravitation ist doch sicherlich das exakte kybernetische Modell eines fallenden Steins. Aber von Regelung oder gar von Selbstregelung kann dabei keine Rede sein. Es handelt sich um einen einfachen Steuerungsprozeß, und der Steuerfaktor ist die Erdanziehung.
Warum wir auf diesem Wort "Selbstregulierung" so herumreiten?
Ganz einfach deshalb, weil es sich eindeutig auf die Rückkopplung bezieht, die schon häufig genug durch die Kybernetik geistert - auch dort, wo man leicht auf sie verzichten könnte. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Auch wir lieben die Rückkopplung sehr und wünschen ihr alles Gute. Aber dass sie sich ständig ins Gespräch mischt, wenn man von Kybernetik redet, das stört ein bißchen. Durch ihre Aufdringlichkeit hat sie es so weit gebracht, dass selbst mancher sehr honorige Kopf sich inzwischen schon dem Irrglauben hingegeben hat, Kybernetik sei von der Rückkopplung gar nicht mehr zu scheiden - etwa so, wie andernorts geglaubt wird, dass "Sonnabend" und "Fußball" nicht zu trennen sei.
Was aber noch viel wichtiger ist als der Vergleich mit dem Fußball: Georg Klaus bringt den Begriff des "Zusammenhangs" ins Spiel. Dieser Bestandteil seiner Definition ist so wesentlich und gleichzeitig so offenkundig, dass man sich wundert, wie wenig Wissenschaftler ihn oder einen ähnlichen verwenden. Gerade der "Zusammenhang" unterscheidet die Kybernetik ja grundlegend von der Wissenschaft der alten Schule.
Worum bemühte sich denn die Wissenschaft früher? Wir sprachen vorhin schon davon: Sie beschäftigte sich möglichst intensiv mit Einzelprozessen; sie schnitt alles, dessen sie habhaft werden konnte, in kleinste Scheibchen und legte sie unters Mikroskop. Das war sehr verdienstvoll; damit drang man bis zur Gestalt der winzigsten Zelle und bis zum Atommodell vor. Aber diese Art der Wissenschaft hat einen empfindlichen Nachteil: sie kann nur statische Ergebnisse bringen. Was so ins Kleinste zerlegt wird, ist tot - sowohl real wie im übertragenen Sinn. Über das Verhalten eines Organismus sagen seine Partikelchen nichts mehr aus, und wenn man sie unter das schärfste Elektronenmikroskop legt.
Im Gegensatz dazu geht der kybernetische Weg das Ganze an, den Zusammenhang, das System. Die größte Schwierigkeit stellt sich bei der Frage ein, wo man die Grenze zieht, was man als einheitliches System betrachtet.
Forscher Klawuttke hat dieses Problem nicht. Sein Ameisenhaufen ist ein in sich abgegrenztes System. Der nächste Ameisenhaufen ist dreihundert Meter entfernt; die beiden Völker kommen überhaupt nicht in Berührung, Sie treffen sich nur bei UNO-Sitzungen.
Bei Volkswirtschaften, Fabriken und Gesangvereinen ist die Abgrenzung viel schwerer, weil weder der Mitgliederstatus noch das Fabrikgelände diese Systeme eindeutig begrenzen. Aber das ist ein Problem, mit dem Sie sich nicht herumzuschlagen brauchen.
Gehen wir zurück, zu den großen Zusammenhängen?
Julien Loeb, ein französischer Wissenschaftler, nannte die Kybernetik die "science de relations", also die Wissenschaft von den Beziehungen. Das klingt interessant. Ross Ashby, ein englischer Neurologe und ganz nebenbei einer der bedeutendsten Schrittmacher der Kybernetik, bezeichnet sie als die "allgemeine, formale Wissenschaft der Maschinen", wobei er unter "Maschinen" sowohl Rotationspressen wie Menschen oder Hunde, Volkswirtschaften oder Ameisenhaufen verstanden wissen will - kurz: Systeme, die organisiert sind und über eigene Dynamik verfügen. Ashby ist (unseres Wissens) der erste, der "kybernetische Fragen" formuliert hat; er fragt nicht: "Was ist ein Ding?", sondern: "Was tut es? Wie verhält es sich? Wie ist seine Struktur?"
Struktur aber, einer der wichtigsten Begriffe in der Kybernetik, bedeutet ja "Organisation", "Zusammenhang", "Beziehungen". Ashby meint: "Kybernetik befaßt sich mit allen Formen des Verhaltens, soweit sie regelmäßig, determiniert, vor allen aber reproduzierbar sind".
Nun ist das zwar noch kein Programm für eine Wissenschaft, aber doch eine Erkenntnis, die ein Stück weiterführt. Dr. Hans-Joachim Flechtner steuert eine Definition bei, die auch in diese Richtung zielt: "Kybernetik ist die allgemeine, formale Wissenschaft von der Struktur, den Relationen und dem Verhalten dynamischer Systeme".
Erstaunlich ist, dass in keiner dieser Formulierungen das Wort "Modell" erscheint. Dabei spricht die Mehrzahl der Wissenschaftler unablässig von "kybernetischen Modellen". Vielleicht ist ihnen die Zusammengehörigkeit von "Kybernetik" und "Modell" so vertraut, dass sie sie von vornherein für selbstverständlich halten. Ashby beispielsweise legt immer wieder breit und ausführlich dar, dass sich die Kybernetik zu den dynamischen Systemen so verhalte wie die Geometrie zu den wirklichen Formen dieser Erde. Das erklärt ihren Modellcharakter sehr hübsch. Dennoch erscheint das Wort "Modell" in keiner seiner Definitionen. Deshalb, meinen wir, könnte man Kybernetik auch so definieren: "Kybernetik untersucht strukturelle Zusammenhänge an Organismen und organisierten Systemen und versucht, die als wesentlich erkannten Zusammenhänge in Modellen zu simulieren."
Das ist doch eine ganz vernünftige Definition. Oder?

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